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Stimmstock, Steg und Schnecke

12. Dezember 2019
Zugegeben, mein Verhältnis zu Streichinstrumenten war nicht immer so ungetrübt wie heute. Als jugendlicher Rockmusik-Fan habe ich es gehasst, wenn der ein paar Jahre ältere Nachbarsjunge Jörg, wohl auf drängendes Betreiben der Eltern, des Nachmittags auf seiner Geige geübt hat. Während ich T-Rex, Sweet und David Bowie, auf Geheiß meiner Mutter in Zimmerlautstärke, hören wollte, […]

Zugegeben, mein Verhältnis zu Streichinstrumenten war nicht immer so ungetrübt wie heute. Als jugendlicher Rockmusik-Fan habe ich es gehasst, wenn der ein paar Jahre ältere Nachbarsjunge Jörg, wohl auf drängendes Betreiben der Eltern, des Nachmittags auf seiner Geige geübt hat. Während ich T-Rex, Sweet und David Bowie, auf Geheiß meiner Mutter in Zimmerlautstärke, hören wollte, drang durch die dünnen Wände der Mietwohnung stundenlanges Gefiedel der immer selben „Melodie“ an mein Ohr. Ein furchtbares Gekrächze, dachte ich damals. Was ist der Unterschied zwischen einer Geige und einem Cello? Das Cello brennt länger! So machten meine Freunde und ich uns damals Luft.

Wunderbare Konzerte

Keine Berührungsängste: Mein begnadet geigender Freund Wojtek. Foto: privat

Gut 40 Jahre später habe ich Geigen, Bratschen, Celli oder Kontrabässe als Musikinstrumente durchaus lieb gewonnen. Nicht zuletzt durch unzählige wunderbare Konzerte, die mir das Göttinger Symphonie Orchester (GSO) im Lauf der Jahrzehnte beschert hat. Indes, das Spielen einer Geige stelle ich mir ziemlich schwierig vor, ebenso allerdings die Herstellung eines solchen Instruments. Nicht verzagen, dachte ich mir, Fachmann fragen. In diesem Fall Fachfrau. Dagmar Loepthien ist Geigenbaumeisterin und führt seit 1996 den Göttinger Geigenladen – Werkstatt für Geigenbau an der Ecke Burgstraße/Speckstraße. Ich habe sie dort besucht.

Reparatur und Klangeinrichtung

Streichinstrumente wohin man schaut: ein Blick in die kleine Werkstatt. Foto: Christoph Mischke

Beim Betreten des Eckladens duftet es nach Holz, Wachs und Leim. Im Hintergrund läuft eine entspannende Musik. Die „La-Folia-Versionen“ des katalanischen Gamben-Virtuosen Jordi Savall, wie mir Dagmar Loepthien erklärt. Aha, nie vorher gehört, klingt aber wunderschön. Die Geigenbaumeisterin hat bereits einen harten halben Arbeitstag hinter sich und opfert ihre Mittagspause, um mit mir zu sprechen. Sie hat gut zu tun, in ihrer kleinen Werkstatt, die sich hinter dem Verkaufstresen des Göttinger Geigenladens befindet.

Vom Pferd: Die Roßhaar-Büschel dienen der Bogenbehaarung. Foto: Christoph Mischke

Zwischen den freigelegten Fachwerkbalken hängen, stehen und liegen Streichinstrumente in unterschiedlichen Stadien der Erhaltung: alte, neue, geöffnete, geschlossene, fertige und zerlegte, offensichtlich in Arbeit befindliche. Mir fehlt natürlich der fachkundige Blick auf die Dinge und ich halte die Instrumente für Neubauten. Dem ist mitnichten so, denn das Hauptbetätigungsfeld von Dagmar Loepthien ist die Reparatur und die Klangeinrichtung von Streichinstrumenten. Damit ist sie bei der großen Zahl ihrer Kunden auch ausgelastet. Amateure, Musiklehrer, Profi-Musiker und Familien mit Kindern, die ein Instrument spielen, vertrauen gleichermaßen ihrer Expertise. „Zu mir kommen fünfjährige Geigenanfänger ebenso, wie Musiker des GSO, das bunte Leben eben“, sagt die Inhaberin des Göttinger Geigenladens lächelnd.

Fichte und Ahorn

Roh und bearbeitet: Riegelahorn wird für den Geigenboden verwendet. Foto: Christoph Mischke

„Die Reparatur ist neben An- und Verkauf ein ganz großer und wichtiger Teil meiner Arbeit“, berichtet die Fachfrau, „und sie ist mitunter weitaus anspruchsvoller als der Neubau.“ Loepthien hat in ihrer Berufslaufbahn acht Geigen, ein Cello und fünf Gamben gebaut. „Der Bau einer Geige vom Stück Holz bis zum fertigen Instrument nimmt rund 250 Arbeitsstunden in Anspruch“, erklärt mir die Meisterin. Ok, mir wird bewusst, dass dies bei einem ausgefüllten Zehn-Stunden-Tag „so nebenbei“ natürlich nicht machbar ist.

Geigenbaumeisterin: Dagmar Loepthien in ihrer Werkstatt. Foto: Christoph Mischke

Sie erklärt mir die Bestandteile einer Geige und wieder einmal lerne ich dazu. Die Decke, also das, was schwingt, wird hauptsächlich aus Fichte gearbeitet. Der Boden und die Zargen, also die geschwungenen Seitenwände, werden häufig aus Riegelahorn gefertigt. Riegelahorn ist eine Wuchsanomalie, wie sie recht selten beim Bergahorn vorkommt. In längsgeschnittenem Holz ist dabei ein streifenförmiges Quermuster zu erkennen, das von einem wellenförmigen Faserverlauf des Holzes hervorgerufen wird. Spannend, denn ich habe mich schon häufig gefragt, woher diese schöne Maserung auf Geigen stammt. Das Griffbrett ist meist aus Ebenholz gefertigt, das besonders hart und verschleißfest ist. An dessen oberem Ende sitzt der Wirbelkasten. Hier befinden sich die vier konischen Wirbel aus Hartholz, mit denen die Saiten des Instruments gestimmt werden. Der Wirbelkasten endet in einer Schnecke, selten auch in einem Frauen- oder Löwenkopf.

Stimmstock ist klangentscheidend

Fummelarbeit: Die Meisterin schnitzt winzige Späne vom Stimmstock. Foto: Christoph Mischke

Dagmar Loepthien geht ganz in der Liebe zu den Instrumenten ihrer Kunden auf, das spüre ich deutlich. „Wenn ein Kunde in den Laden kommt und sagt meine Geige ‚näselt‘, muss ich erst einmal Ursachenforschung betreiben“, erklärt sie. „Das ist wirklich spannend, denn es gibt unzählige Gründe für den Missklang.“ Wie zum Beweis betritt ein Hobby-Geiger den Göttinger Geigenladen, weil die Inhaberin vergessen hat die Tür während der Mittagspause abzuschließen.

„Ich muss Ursachenforschung betreiben“

Seine Geige ist heruntergefallen und dabei ist der Stimmstock umgekippt, ein kleiner klangentscheidender Holzstift, zwischen Boden und Decke der Violine. „Nein, er ist nicht verleimt, wie der Kunde dachte“, erklärt Loepthien, „der Mann spielt zwar Geige, hat aber von der Technik wenig Ahnung, ein recht typisches Kundengespräch, wenn es sich nicht um Berufsmusiker handelt.“ Sie zeigt mir anhand einer anderen Geige, was geschehen ist und wie eine Reparatur des Stimmstocks erfolgen kann. Das Hölzchen wird nämlich erst nach dem Verleimen der Geige eingesetzt und das macht es ziemlich kniffelig.

Erfahrung und Fingerspitzengefühl

Geklemmt: Behutsam wird der Stimmstock durch das F-Loch eingesetzt. Foto: Christoph Mischke

Dagmar Loepthien liebt „Fummelarbeiten“. Mit einem Spezialwerkzeug, dem Stimmstocksetzer, ein gebogener, am Ende angespitzter Metallhaken, spießt sie „die Stimme“ vorsichtig auf. Behutsam führt sie sie durch das F-Loch in den Korpus ein. F-Löcher heißen die Schalllöcher einer Geige, die sich rechts und links vom Steg befinden und in ihrer Form an den sechsten Buchstaben des Alphabets erinnern. Habt ihr bestimmt schon einmal gesehen. Ziemlich mittig muss der Stimmstock zwischen Decke und Boden geklemmt werden, nicht zu fest und nicht zu locker, da ist viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl vonnöten.

„Reparaturen sind wie eine Altbausanierung, man weiß nie, was einen erwartet.“

Mit einem kleinen scharfen Messer schnitzt die Meisterin winzige Späne von dem Holzstab, um ihn in Länge und Wölbung an das Innenmaß anzupassen. Immer wieder, bis er passt. Die Position kontrolliert sie mit einem kleinen Mundspiegel, wie ihn auch ein Zahnarzt benutzt. Ich staune über so viel Geduld. Bei Profi-Instrumenten kann dieser diffizile Anpassungsvorgang durchaus ein paar Tage dauern, bis die Geige wieder so klingt, wie es der Musiker möchte.

Hohes Maß an Vertrauen

Zwinge und Leim: Bruch- und Lackschäden sind häufige Reparaturen. Foto: Christoph Mischke

„Diese Unfall-Reparaturen sind recht häufig“, berichtet die Fachfrau, „mal sind es Stege, die gebrochen sind, manchmal, wenn es ganz dicke kommt, gar die komplette Verbindung zwischen Korpus und Hals. Sie vergleicht diese Arbeiten mit einer Altbausanierung, weil man auch dort nie weiß, was einen hinter einer aufgeklopften Wand erwartet. „So eine Reparatur erfordert ein hohes Maß an Verantwortung“, sagt Loepthien, „da darf nichts schiefgehen.“ Die Menschen vertrauen ihr ein Instrument an, dass sie üblicherweise nicht aus der Hand geben würden. Andersherum sprechen die Kunden auch genau mit dem Menschen, der ihr Instrument repariert hat. Eins zu eins, Auge in Auge. Das schafft ein hohes Maß von Vertrauen und darüber hinaus ergeben sich noch spannende Themen aus dem Bereich der Musik, denn Dagmar Loepthien spielt selbst im Ensemble kleine Konzerte auf der Gambe.

Alles Handarbeit im Göttinger Geigenladen

Maßarbeit: Der Steg einer Geige ist hohem Druck durch die darüber laufenden Saiten ausgesetzt…

…und muss, im Falle eines Bruchs, individuell angefertigt werden. Fotos: Christoph Mischke

Im Göttinger Geigenladen ist alles Handarbeit, Handwerk im ursprünglichen Sinn. Sogar der köstliche Espresso, den mir die Geigenbaumeisterin anbietet, kommt nicht aus einer Maschine, sondern aus einer klassischen kleinen Espresso-Kanne. Es ist alles so herrlich analog hier. Mich faszinieren die unzähligen Pinsel, Töpfe, Tiegel und Fläschchen, deren Inhalt mir unbekannt bleibt. Zahllose große und kleine Werkzeuge stehen auf den hölzernen Werkbänken oder hängen an der Wand.

Zweckentfremdet: Schubladen eines ehemaligen Kolonialwarenladens. Foto: Christoph Mischke

Ich entdecke geschliffene scharfe Messer, Feilen in jeglicher Form, Pinzetten, Zwingen, Beitel, Hohlklingen, winzige Hobel und Ziehklingen für die Oberflächenbearbeitung. „Verranzte Lackoberflächen bekomme ich nämlich ebenfalls sehr häufig zur Reparatur“, berichtet die Expertin. Manchmal ist der Lack bei Dachbodenfunden im Lauf der Jahre nur fleckig geworden, häufig sind Schrammen oder Macken, die aus Unachtsamkeit entstanden sind, darin. „Dabei geht es immer nur um das Ausbessern“, stellt sie klar, „denn der Original-Lack gehört zum Instrument und bleibt darauf.

Instrumente zur Vermietung

Auswahl: Nicht der Himmel, aber die Werkstatt hängt voller Geigen. Foto: Christoph Mischke

Dagmar Loepthien zeigt mir eine Kindergeige, an der sie gerade eine abgestoßene Ecke ersetzt hat. Ich erkenne die Reparatur nur mit Mühe an der frisch aufgetragenen Lackschicht. Ein paar Tage später könnte ich das wohl nicht mehr, so perfekt sieht es aus. Apropos Kinder. Kinder lieben Musik und viele möchten gerne ein Instrument erlernen. Manchmal aus eigenem Antrieb, manchmal auf Betreiben der Eltern. Wie das aber mit den lieben Kleinen so ist, verlieren sie nach anfänglichem Interesse auch schon einmal die Lust am Musizieren. Dann ärgern sich die Eltern, weil das mehr oder minder teure Instrument im Schrank liegen bleibt. Dieses Problem ist auch Dagmar Loepthien bekannt und sie bietet ihren Kunden eine komfortable Abhilfe. Mehr als 100 Streichinstrumente, auch in Kindergrößen, hält sie im Göttinger Geigenladen nämlich zur Vermietung bereit. Eine wunderbare Idee, wie ich finde, reduziert sie doch das finanzielle Risiko für die Eltern auf ein überschaubares Maß.

Ich würde es wieder so machen

Beratung: Linda (li.) und Paula suchen nach Saiten für ihre Bratschen. Foto: Christoph Mischke

Auch Anja Duske aus Northeim, die jetzt mit Ihren Töchtern Linda und Paula im Laden steht, hat den beiden ihre ersten Bratschen bei Dagmar Loepthien gekauft. Die sechzehnjährigen Zwillingsschwestern spielen nun schon sehr lange in einem Orchester und sind heute auf der Suche nach speziellen Saiten für ihre Instrumente. Sie werden in einem Katalog fündig und geben ihre Bestellung auf. Es sind genau diese Begegnungen und die vielseitige Arbeit, die immer wieder mit Überraschungen verbunden ist, die Dagmar Loepthien so liebt. „Wenn ich die Uhr um zwanzig Jahre zurückdrehen könnte, würde ich alles genau so wieder machen“, sagt sie lächelnd. Ich glaube ihr aufs Wort.

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Christoph Mischke

Ich bin in "Chöttingen cheboren", so wie es wohl Schorse Szültenbürger in seinen vergnügten Geschichten in Göttinger Mundart geschrieben hätte. Ich hatte immer das Glück in meiner Heimatstadt leben und arbeiten zu können und halte es mit dem Historiker August Ludwig von Schlözer, der sagte: "Extra Gottingam non est vita, si est vita non est ita." (Außerhalb Göttingens kann man nicht leben, wenn aber doch, dann nicht so gut).
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