Durch die Weender Straße gehen täglich Hunderte von Menschen. Auf dem Weg zur Arbeit, zum Shopping oder einfach beim Sonntags-Bummel passieren sie auch die Hausnummer 62, schräg gegenüber der Einmündung zur Mühlenstraße. Hier lohnt es sich besonders, den Blick einmal über das Straßenniveau zu heben, denn das Schrödersche Haus ist ein Meisterwerk des Renaissance-Fachwerkbaus. Über den Schaufenstern der Bekleidungsgeschäfte „Blutsgeschwister“ und „Calzedonia“, in der ersten Etage, tut sich ein wahres Schatzkästchen der Holzschnitzerei auf.
Schrödersche Haus: Schnitzereien unter Mörtel und Farbe

Besitzer August Schröder hat sich an der Fassade verewigt.

Vom Putz befreit: Historische Ansichtskarte des Schröderschen Hauses.
Gleich zwei Besitzern haben wir dieses Schmuckstück zu verdanken. Tuchmacher Jürgen Hovet ließ das Fachwerkhaus im Jahr 1549 erbauen und mit den wunderschönen Schnitzarbeiten versehen. Irgendwann, vermutlich zu Zeiten der Gründung der Georg-August-Universität, galten Fachwerkhäuser nicht mehr als „en vogue“, sondern schlichtweg als armer Leute Behausung. Mehr oder weniger fachmännisch wurden sie verputzt und das, was wir heute als hübsch, pittoresk und erhaltenswert erachten, verschwand unter Mörtel und Farbe.
Schröder ließ Fassade freilegen

Kaum noch zu entziffern: die Inschrifttafel des Erbauers.

Fachkundig wiederhergestellt: Knaggenschmuck während…

…und nach der Restaurierung.
Erst August Schröder, der das Gebäude um das Jahr 1883 kaufte, ließ die ursprüngliche prachtvolle Fachwerkfassade wieder freilegen. Vermutlich bei Reparaturarbeiten hatte er entdeckt, welch‘ filigranes Kunsthandwerk sich unter der Putzschicht verbarg. Da finde ich es auch nur in Ordnung, dass er seinen Namen in stolzer Breite zwischen Torbogen und Erker anbringen ließ. Ohne ihn wären die uralten Eichenbalken samt ihrer Verzierungen möglicherweise für immer verschollen geblieben. Ich weiß noch, wie ich einmal, im Juli 2012, bei den Sanierungsarbeiten zugesehen habe. Ein Handwerker sagte mir damals, dass Balken und Schnitzereien sehr unter dem Verputzen gelitten hätten.
Phantasiegestalten mit Fischschwänzen

Farbig auf dunkler Eiche: Männer und Frauen in zeitgenössischer Bekleidung.

Streckt Passanten die Zunge heraus: ein Neidkopf?
Was genau an der Fassade im dunklen Eichenholz zu sehen ist, vermag ich nicht zu deuten. Viele Köpfe und Ganzkörperansichten von Männern und Frauen erkenne ich, augenscheinlich in zeitgenössischer Bekleidung. Am Erker (Utlucht) sehe ich Blattranken in Grün und einige Phantasiegestalten, die so aussehen, als ob sie Fischschwänze tragen. Wer weiß, was Jürgen Hovet sich bei dieser Auswahl gedacht haben mag? Denn vermutlich wurden die Schnitzereien schon beim Bau angebracht. Einer von den kunstvoll herausgearbeiteten Köpfen sieht so aus, als ob er den vorbeilaufenden Passanten die Zunge heraustreckt. Vielleicht ein sogenannter Neidkopf, der Hass und Zorn abwenden sollte. Die Inschrifttafel, die Hovet an der Utlucht anbringen ließ, ist, trotz sachkundiger Restaurierung kaum noch zu zu entziffern. „To minen eren. unde godes des heren. Anfang unde enden steit in godes henden. Gode to loven heft jurgen hoevet dut hus gebwt”, stand dort einst zu lesen.
Werkzeuge des Berufsstandes

Schutzpatron: Der Engel trägt ein Banner mit dem Baujahr des Hauses.

Die Zeichen des Tuchmachers: Phantasiefiguren tragen Pinsel und Weberschiffchen.
Über dem Torbogen ist ein Mann mit Flügeln zu sehen, der ein Banner mit dem Baujahr vor sich trägt. 1549 ist darauf zu lesen. Vielleicht ein Schutzpatron des Hauses. Sowohl Hovet, als auch später August Schröder, haben Werkzeuge ihres Berufsstandes an der Fassade verewigen lassen. Über dem Torbogen scheinen Wesen zu fliegen, die Pinsel zum Auftragen der Schlichte sowie Weberschiffchen in den Händen halten. Unverzichtbare Werkzeuge der Weber und Tuchmacher. Beim Schlichten wurden die Garne mit einer Mischung aus Kleister und Leim getränkt, damit sie vor dem Aufspleißen und Durchscheuern beim Weben geschützt waren.
Schlosser oder Klempner?

Zunftzeichen: Zirkel, Schere Hammer und Lötkolben weisen den Spengler aus.
Schröder wollte dem wohl nicht nachstehen und hat sein Zunftzeichen unter dem von Hovet direkt im Torbogen anbringen lassen. Merkwürdig dabei: Viele Recherchequellen vermelden, dass Schröder Schlossermeister gewesen sein soll, aber das geschnitzte Zeichen ist eindeutig das der Spengler- respektive Klempner-Zunft. Deutlich sind die Werkzeuge wie Spitzzirkel, Blechschere, Spenglerhammer und Lötkolben zu erkennen. Vielleicht bin ich da etwas ganz Großem auf der Spur und ein Teil der Göttinger Stadtgeschichte muss umgeschrieben werden.
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