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Die Göttinger Straßenbahn: Beinahe wäre sie gefahren

Von Redaktion
Warum gibt es in Göttingen eigentlich keine Straßenbahn? Unser Gästeführer Jörg Scharmach hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass es in Göttingen fast mal eine Straßenbahn gegeben hätte. Letztendlich wurden die Pläne vom Ersten Weltkrieg durchkreuzt und das Vorhaben abgesagt. Lasst uns also einmal das Szenario durchspielen, wie es in Göttingen heute mit einer Straßenbahn aussehen würde.
  • Alte Fotomontage von Göttingen mit Straßenbahnen.

Ein fast vergessenes Projekt

Vorstöße und Pläne für das fast vergessene Projekt “Straßenbahn” gab es reichlich. Zahlreiche Anträge wurden im Lauf der Zeit gestellt, eine Vermittlungs-Kommission gegründet und Verträge unterzeichnet. Über 400 Tonnen Schienen und Weichen lagen schon unmittelbar zum Verlegen bereit. Doch dann besiegelte der Erste Weltkrieg das Ende des modernen Transportmittels in der Uni-Stadt.

  • Ein altes Bild von einer Straßenbahn in Kassel.

Eine Elektrische in der Göttinger Altstadt

Sven Schreivogel, gebürtig aus Grone und Sohn eines Eisenbahners beschäftigt das Thema „Straßenbahn in Göttingen“schon seit Kindertagen. „Anfang der 1980er-Jahre erzählte ein Kollege meines Vaters, dass früher eine ‚Elektrische‘ in der Altstadt verkehrte“, berichtet der Hörbuchproduzent und Hobby-Historiker. „Auch vom Quietschen der Räder in engen Kurven, hat er gesprochen, „und sogar von der Entgleisung eines Triebwagens an der Ecke Groner Straße/Nikolaistraße.“ Sven war nun extrem neugierig geworden und begann eigene Nachforschungen anzustellen. 1992 veröffentlichte er seine Ergebnisse schließlich in einem kleinen Büchlein. Die regionale Presse griff das Thema auf, und die Broschüre fand reißenden Absatz. Inzwischen ist sie längst vergriffen.

  • Die Broschüre

Viele Anläufe scheiterten

Im Lauf der Jahrzehnte gab es in Göttingen ziemlich viele Pläne für ein schienengebundenes Nahverkehrsnetz. Der erste Antrag auf Konzession einer Pferdebahn wurde bereits 1881 von Oscar Graf von Reichenbach gestellt. Einige weitere sollten folgen – für eine Pferdebahn, eine Gasbahn und auch die Elektrische. Die meisten Anträge stießen bei Magistrat und Bevölkerung auf reges Interesse, verschiedene Systeme wurden beraten, Streckenverläufe geplant, kalkuliert und auch wieder verworfen. Besonders interessant ist jedoch der letzte Vorstoß, der im Jahr 1913 seinen Anfang nahm.

  • Ein altes Bild von Göttingen mit Pferdekutschen.

Sofortiger Bau der Straßenbahn

Um diese Zeit gab es im gesamten deutschen Reich nur noch zwei Städte über 35.000 Einwohner, die keine Straßenbahn besaßen – eine davon war Göttingen. Eine Tatsache, die den Stadtvätern so überhaupt nicht schmeckte. Am 1. November 1913 schlossen sie einen Vertrag mit dem Ingenieur A. Hecker aus Wiesbaden als Sachverständigem und Berater bei der Planung einer elektrischen Straßenbahn. Nach einigen gescheiterten Kooperationen und aufgrund günstiger Kostenprognosen wollte die Kommune die Bahn nämlich nun in Eigenregie bauen und betreiben. Die Straßenbahnkommission unter Baurat Friedrich Jenner arbeitete ein drei Linien umfassendes Konzept aus. Am 27. April 1914 wurde der Vorschlag von Magistrat und Bürgervorsteher-Kollegium einstimmig angenommen und der sofortige Bau der Straßenbahn beschlossen.

  • Eine Karte von den geplanten Strecken der Göttinger Straßenbahnen.
  • Die Geismar Landstraße.
  • St. Paulus in der Wilhelm-Weber-Straße

Drei Linien sollten fahren

Geplant waren für Göttingen drei Linien, die in verschiedenen Stadtgebieten kursieren sollten.

Linie 1 (blau)

Gemarkung Weende, Weender Chaussee, Weender Straße, Kornmarkt, Groner Straße, Groner-Tor-Straße, Groner Chaussee, Eisenbahnübergang.

Mit dem Eisenbahnübergang ist die Bahnbrücke an der neuen Sparkassenzentrale gemeint. Auch wenn sie nach heutigen Maßstäben nicht so extrem wirkt, für damalige Verhältnisse war sie es. Nach ihrem Neubau, der 1922 beendet wurde, sollte sie, mit 16 Metern Breite, zwei Fahrbahnen, zwei Fußwegen und einer zweigleisigen Straßenbahn Platz bieten. Es war geplant, die Linie 1 bis zum Stadtfriedhof zu verlängern. Wenn ihr im alten Stadtplan den Begriff „Chaussee“ durch „Landstraße“ ersetzt, wisst ihr, wie die Straßen heute heißen.

Linie 2 (rot)

Bahnhof, Alleestraße (die heutige Goetheallee), Prinzenstraße, Weender Straße, Kornmarkt, Groner Straße, Nikolaistraße, Bürgerstraße, Reinhäuser Chaussee, Feuerschanzengraben, Geismar Chaussee, Neue Kasernen. Das waren die spätere Wörth- und die Lüttich-Kaserne in der Geismar Landstraße. Dort, wo die Gothaer Versicherungen später ihren Sitz hatten.

Linie 3 (grün)

Bahnhof, Alleestraße, Prinzenstraße, Theaterstraße, Theaterplatz, Bühlstraße, Wilhelm-Weber-Straße, Dahlmannstraße, Herzberger Chaussee, Theaterplatz, Theaterstraße, Prinzenstraße, Alleestraße, Bahnhof. Das ist die Strecke, die aus heutiger Sicht viel Vorstellungskraft braucht. Hätte sich das heute so beschauliche Ostviertel, die 1A-Lage in Göttingen, genauso entwickelt, wenn dort zwischen 6 und 23 Uhr im geplanten Zehn-Minuten-Takt eine Tram durchgerumpelt wäre? Wir werden es wohl nie erfahren. Andersherum hätte die Stadthalle heute eine Top-ÖPNV-Anbindung.

  • Briefkopf der Städtischen Straßenbahn Göttingen.

„Städtische Straßenbahn Göttingen“ gegründet

Irgendwie schien das früher schneller zu gehen als heute. Am 10. Juni 1914 wurde die „Städtische Straßenbahn Göttingen“ gegründet und bereits am 29. Juni begannen die Pflasterungsarbeiten in der Weender Straße. Fun Fact: Es sollte sogenanntes „geräuschloses Pflaster“ verwendet werden. Das war nichts anderes als Stampfasphalt, der, im Gegensatz zum damals üblichen Kopfsteinpflaster, deutlich leiser war. Allerdings war er auch teurer. Deshalb wurden die betroffenen Anlieger zur Finanzierung herangezogen.

  • Auszüge des Fahrplans der geplanten Göttinger Straßenbahn

Einhundert Meter Schienen pro Tag

Neben der Finanzierung gab es mehrere Einwände für das Vorhaben seitens der Bevölkerung. Der Unmut darüber, dass der Starkstrom der Bahnen die Erforschung des Erdmagnetismus gefährde, dass lautstarke Fahrgeräusche die Genesung von Patienten verhindere oder schlichtweg, dass der Schmutz und Schlamm während der Bauarbeiten geschäftsschädigend wirke, konnte beschwichtigt werden. Die Stadt versicherte den aufgebrachten Anwohnern, dass dieser Zustand bald beendet sein würde, da pro Tag etwa einhundert Meter Schienen im Pflaster verlegt werden könnten. Aber dazu sollte es nicht mehr kommen.

  • Verkaufsanzeige für die Schienen, Weichen und Spurstangen der Göttinger Straßenbahn.

Der Erste Weltkrieg besiegelte das Ende

Deutschland stieg mit seiner Kriegserklärung an Russland am 1. August 1914 in den Ersten Weltkrieg ein, der auch das Ende des modernen Verkehrsmittels für unsere Stadt besiegelte. Mangels finanzieller Mittel in der Nachkriegs-Phase scheiterte auch ein weiterer Plan, mit den verbleibenden Schienen nur eine Strecke zu bauen. Die inzwischen angerosteten Schienen und Weichen wurden zur teilweisen Deckung der bereits angefallenen Kosten verkauft. Da die Einrichtung einer elektrischen Bahn in Göttingen vorerst in weite Ferne gerückt war, gab es keine Bedenken gegen die Vergabe einer Konzession für privaten Kraftomnibusverkehr, die der Fuhrwerkbesitzer Kulp im Jahre 1925 beim Magistrat beantragt hatte. Am 27. September 1927 übernahm die Stadt Kulps Konzession und den Fahrzeugpark und gründete den „Städtischen Kraftwagenbetrieb Göttingen“. Von nun an ging es in Göttingen nur noch um Omnibusse.

  • Eine alte Illustration von Göttingen mit Straßenbahnen.
  • Ein altes Foto von Göttingen und vielen Omnibussen.

Eine Bahn, die nie gefahren ist

„Es ist wirklich faszinierend“, verrät Sven Schreivogel, „bei meinen Recherchen bin ich immer wieder auf Menschen gestoßen, die sich todsicher waren, dass in Göttingen eine Straßenbahn gefahren ist. Genau wie damals der Kollege meines Vaters, behauptete auch Karl-Heinz Plikat, seinerzeit geschäftsführender Redakteur des Göttinger Tageblatts, über die Schienen gestürzt zu sein.“ Seine Zeitung schrieb am 6. Oktober 1972 „…die Fundamente für die Schienenstränge sowie die ersten hundert Schienen wurden gelegt und erst nach Jahren mit einer Hartgussasphaltdecke überzogen.“ Sven Schreivogel weiß es besser: „Nein, das stimmt nicht“, verrät er, „es wurden keine Schienen verlegt, aber Göttingen kann für sich das Phänomen in Anspruch nehmen, eine Straßenbahn besessen zu haben, die nie gefahren ist.“

Redaktion
Unsere Autorinnen und Autoren kennen sich aus: Spannende Geheimtipps, ungewöhnliche Perspektiven und Fakten, die auch Göttinger*innen noch überraschen: Das ist das, was "Mein Göttingen" ausmacht. Jeden Donnerstag gibt es einen neuen Beitrag. Habt ihr eine interessante Idee über die wir bisher noch nicht geschrieben haben oder wollt ihr selbst einen Artikel schreiben? Kontaktiert uns einfach!

Text: Christoph Mischke
Redaktion: Malisa Wille

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