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Drei Hochzeiten und ein Todesfall: eine Bürger(doppel)stunde

Von Gudrun
10. Oktober 2019
Bei Facebook habe ich gelernt, dass Mittwoch „Bergfest“ ist. Zeit, sich auf das freie Wochenende zu freuen, es sei denn man arbeitet als Stadtführerin, da ticken die Uhren etwas anders. Ich höre oft, dass es doch doof sei, am Wochenende zu arbeiten. Ist es nicht. Ich liebe den Kontakt mit immer neuen Menschen. Ich liebe […]

Bei Facebook habe ich gelernt, dass Mittwoch „Bergfest“ ist. Zeit, sich auf das freie Wochenende zu freuen, es sei denn man arbeitet als Stadtführerin, da ticken die Uhren etwas anders. Ich höre oft, dass es doch doof sei, am Wochenende zu arbeiten. Ist es nicht. Ich liebe den Kontakt mit immer neuen Menschen. Ich liebe es, immer neue Themen zu entdecken und in eine Stadtführung zu verwandeln. Und ich liebe mein Göttingen am Sonntagmorgen, wenn die Kirchenglocken läuten und kein Sprinter mich anhupt. Das ist Entschleunigung pur.

Bürger passt sein Geburtsdatum nicht

Ticketverkauf: Martina Baumann in der Göttinger Tourist-Information. Foto: Keindorf

Entsprechend entspannt betrete ich die Tourist-Information mit einem fröhlichen „Hallo, wie läuft es denn so?“ Mitarbeiterin Martina Baumann kennt das schon. „Ich habe gerade Ticket Nummer zehn und elf verkauft.“ Nicht schlecht für dieses Spezialthema, denke ich. Gottfried August Bürger? Wer? – Der mit dem Ritt auf der Kanonenkugel! – Ach der. Geboren ist er am 31. Dezember 1747 in Molmerswende am Südharzrand. Das Datum passt ihm aber nicht, denn er will nicht der letzte Eintrag im Kirchenbuch seines Vaters sein. So behauptet er immer, er sei am 1. Januar 1748 geboren. Eine etwas eigenwillige Interpretation von „die Letzten werden die Ersten sein“.

Ein eitler Schöngeist

Von Tischbein gemalt: Gottfried August Bürger. Foto: privat

An Bürgers Studentenbude in der „Roten Straße“ schaue ich mir mit meinen Gästen das Porträt des damals 23-Jährigen an, das kein Geringerer als Johann Heinrich Wilhelm Tischbein gemalt hat. Wir sind uns einig: ein eitler Schöngeist mit Hang zu teuren Klamotten. Diesen Drang zu Höherem hatte er wohl von seiner Mutter geerbt, die zeitlebens mit der schleppenden Karriere des von ihr geehelichten Landpfarrers unzufrieden war. Dabei war sie selbst auch eine Pfarrerstochter. Allerdings hatte ihr eigener Vater eine gut dotierte Stelle. Und so ist es dieser Großvater, der Bürger den Schulbesuch in Aschersleben und das Theologiestudium in Halle an der Saale finanziert. Jura wäre Bürger allerdings lieber gewesen. Hübsche Mädchen gibt es in Halle sehr viele und dazu reiche, adelige Studenten. Da will er natürlich nicht der Letzte sein. Die Buchhaltung ist aber eindeutig weder Bürgers Stärke noch seine Leidenschaft, und das Thema Schulden wird ihn zeitlebens begleiten.

Jurastudium in Göttingen

Theologie und Jura: Bürger studierte an der Georgia Augusta. Foto: Christoph Mischke

Ist es christliche Nächstenliebe oder schlicht Engelsgeduld? Jedenfalls finanziert der Großvater dem abgebrochenen Theologiestudenten ab 1768 auch noch das Jurastudium in Göttingen. Seinen Lebenswandel ändert er nicht. Man munkelt von Bürgers Affäre mit der 28-jährigen, bereits verwitweten Tochter seiner Zimmerwirtin. Doch er schafft es, sein Studium innerhalb der üblichen vier Jahre zu beenden. Sein Freund Heinrich Christian Boie besorgt ihm eine Stelle als Amtmann in Altengleichen. Die nächsten zwölf Jahre arbeitet er in Gelliehausen. Von dort hält er Kontakt zur Göttinger Literaturszene, besonders zum Hainbund, denn es schlagen „ach zwei Herzen in seiner Brust“. Jura und Dichtung unter einen Hut zu bringen, das ist nicht ganz einfach für ihn.

Ménage à trois

Skandal: Bürger unterhielt eine schicksalhafte Beziehung zu Molly. Foto: privat

Noch schwieriger aber ist das bei den Damen. 1774 heiratet er Dorette, die Tochter des Justizamtmanns Johann Carl Leonhart zu Niedeck. Kurz nach der Hochzeit verliebt er sich in deren jüngere Schwester Molly. An der nächsten Station schauen wir uns ihr Porträt an: Hübsch ist sie ohne Zweifel. 1775 erscheint Goethes Skandalstück „Stella“, mit dem er eine Ménage à trois auf die Bühne bringt, und das schon während der Premiere abgesetzt wird. Im realen Leben inszeniert und mit zwei Schwestern ab 1777 gelebt, ist der Skandal noch eine Nummer größer. Dorette stirbt bei der Geburt des dritten Kindes. 1784 zieht Bürger mit seiner geliebten Molly, die auch schon ein Kind mit ihm hat, nach Göttingen in das Gartenhaus seines Verlegers Dieterich. Er wird Privatdozent, hält Vorlesungen über Literaturgeschichte und Übersetzungspraxis. Im Jahr darauf heiratet er Molly. Er schreibt sich die Finger wund, um mit Autorenhonoraren den Lebensunterhalt aufzubessern. Dann bricht das Schicksal über ihn herein: Seine geliebte Molly stirbt Anfang 1786 im Kindbett. Bürger verarbeitet seine Seelenpein in Gedichten, Oden und Balladen.

Elegie auf Molly

“Mir gehen regelmäßig die Pferde durch”: Gudrun Keindorf deklamiert die Elegie. Foto: privat

„Auszuschreyen seinen Schmerz –

Schreyen! Ich muß aus ihn schreyen.

Und sie sollte lügen können?

Lügen nur ein einzig Wort?

Nein! In Flammen will ich brennen,

zeitlich hier und ewig dort.

Der Verzweiflung ganz zum Raube

will ich seyn, wofern ich nicht

an das kleinste Wörtchen glaube…“

Wer sich die Elegie auf Molly einmal im gesprochenen Wort anhören möchte, bitte sehr: Elegie. Okay, ich gebe es zu: Beim Deklamieren der „Elegie auf Molly“ gehen mir während der Führung regelmäßig die Pferde durch. Es ist halt kein klassisches Sonett. Das fand übrigens auch Friedrich Schiller, der die 1789 erschienenen Gedichte Bürgers in einer anonymen Rezension gnadenlos verriss. Umso erstaunlicher ist es, dass er trotzdem Geld für das erste Bürger-Denkmal Göttingens stiftete. Crowdfunding ist nämlich keine neue Erfindung.

Denkmal zerdeppert

Die trauernde Germania beugt sich mit einem Kranz aus Eichenlaub über eine Urne. Das Denkmal stand dort, wo heute die Stadthalle steht. Es war das zweite Denkmal für einen Universitätsangehörigen überhaupt. Vorher hatte man nur Albrecht von Haller mit einer schlichten Steinurne für die Gründung des Botanischen Gartens geehrt. 1839 schoben die Göttinger das Bürger-Denkmal in die Grünanlagen vor dem Bahnhof. 1956 wurde es beim vierspurigen Ausbau der Berliner Straße zerdeppert und entsorgt. Am 8. Juni 1794 stirbt Bürger an der Schwindsucht, verarmt und vereinsamt ist er da. In den acht Jahren nach Mollys Tod hatte er seinen Ruf endgültig ruiniert. Die Affäre mit Meta, der Gattin seines Freundes Johann Nikolaus Forkel, trägt dazu ebenso bei, wie die Heirat mit der 21 Jahre jüngeren Elise Hahn, die ihm bald mit einem Studenten Hörner aufsetzt. Bürger erwischt sie in flagranti, aber statt einzuschreiten späht er durchs Schlüsselloch und protokolliert das Geschehen gewissenhaft als gerichtsfesten Beweis. Kommentar einer Teilnehmerin der Stadtführung: „Wenn zwei das Gleiche tun…“

Wo heute die Stadthalle steht: Bürger-Denkmal mit trauernder Germania. Foto: privat

Brillante Münchhausen-Übersetzung

Der Rosenkrieg samt Scheidung, dazu seine offene Begeisterung für die Französische Revolution: Irgendwie finden wir es alle nachvollziehbar, dass die Göttinger Professoren einen Bogen um ihn machen und dass die Universitätsverwaltung ihn hartnäckig übersieht, wenn es um die Verteilung von vergüteten Professorentiteln geht. Und was zählt schon eine brillante Münchhausen-Übersetzung samt zahlreichen Neuschöpfungen (wer hätte sich nicht schon einmal sprichwörtlich am eigenen Schopf aus dem Sumpf herausgezogen?), wenn die mehrfach angekündigte Homer-Übersetzung nicht fertig wird? Aber wie das so ist: Wenn einer früh stirbt, verklärt sich so manches. 50 Jahre lang wird ein Prozess, den Bürger als Amtmann gegen ein Dienstmädchen führt, in der Juristenfakultät als rühmlicher Präzedenzfall vorgetragen. Catharina Erdmann war nach einer Vergewaltigung schwanger geworden und hatte das Kind gleich nach der Geburt in der Garte ertränkt. Bürger leistet saubere Juristen-Arbeit, bittet einen Freund, ihr Anwalt zu sein und gewissenhaft mildernde Umstände zusammenzutragen. Die lebenslängliche Freiheitsstrafe ist ein humanes Urteil, denn eigentlich wird damals in solchen Fällen noch der Tod durch das Schwert verhängt. Darüber sprechen wir am Accouchierhaus, wo so manche uneheliche Geburt als Anschauungsobjekt für die Studenten her hält.

Geburten als Anschauungsobjekte für Studenten: das Accouchierhaus. Foto: Christoph Mischke

Interessierte Teilnehmer*innen lauschen der Stadtführerin. Foto: Keindorf

Ballonfahrt zum Mond

Wo die einen ihn loben, vergessen ihn die anderen. Bürgers Balladen, allen voran seine „Lenore“, und die Münchhausengeschichten werden volkstümlich. Den Bänkelsänger und den Guckkastenmann auf dem Markt schert der Dichter nicht. Der erste Autor der Münchhausengeschichten ist Rudolf Erich Raspe, auch er ein Göttinger Jurastudent, doch später in Hannover und Kassel in Diensten. Auch er braucht mehr Geld als er hat, vergreift sich an der Kasse und türmt nach England, wo er die Geschichten anonym herausgibt. Doch die Raspe-Geschichten und ihre versteckte Ironie versteht nur, wer die zeitgenössische englische Reiseliteratur kennt. Bürger orientiert sich da mehr an Till Eulenspiegel. Darum erinnert sich kaum jemand an die fliegenden Bäume, auf denen Gurken wachsen, oder an die Ballonfahrt zum Mond, wo die Menschen Kopf und Körper voneinander trennen können, um ihre Aufgaben multitaskingmäßig zu erledigen. Aber der Gaul auf dem Kirchturm und das Pferd, das vom Hoftor zerteilt wird, so dass ihm beim Saufen das Wasser hinten raus läuft, die haben die Zeiten überlebt. Es ist kein Zufall, dass Bürger Pferde-Geschichten schreibt, hat er doch den Universitäts-Reitstall vor Augen, dort, wo heute das Carré steht.

Bürger an der Bürgerstraße

Von Eberlein gestaltet: das Bürger-Denkmal an der Bürgerstraße. Foto: Keindorf

1864 wird die „Ringstraße“ ihm zu Ehren in Bürgerstraße umbenannt, denn zu Beginn seines Studiums wohnt er kurze Zeit in einem Gebäude, das später der Kreisverwaltung weichen muss. Gendern müssen die Göttinger*innen den Straßennamen also nicht. Seine Büste auf der Nordseite der Straße, neben der Bonifatiusschule, sieht zwar arg honorig aus, aber das war der Zeitgeschmack als Gustav Heinrich Eberlein sie 1894 schuf.

Unbekanntes Grab: Bürger-Gedenkstein auf dem Bartholomäusfriedhof. Foto: Christoph Mischke

Einen Grabstein hat Bürger auf dem Bartholomäusfriedhof übrigens nicht bekommen, das ist damals noch nicht allgemein üblich. Einige Zeit später pflanzen ihm seine Logenbrüder eine Akazie – Freimaurer war er nämlich auch. 1846 recycelt man einen anderen Gedenkstein und stellt ihn dort auf, wo man Bürgers Grab vermutet. Aber ehrlicherweise muss ich sagen: Wir wissen nicht, wo er liegt. Ich finde ja: Das passt hervorragend zum falschen Geburtsdatum. Eine Teilnehmerin kommentiert die heutige Führung mit den Worten: „Ich finde das alles unheimlich spannend.“ Ich auch, und deswegen erzähle ich es mit Begeisterung, so oft es jemand hören möchte. Gern auch an einem Sonntag.

Die nächste öffentliche Führung auf den Spuren von Gottfried August Bürger findet am Sonntag, 20. Oktober 2019, statt. Weitere Informationen dazu gibt es unter www.goettingen-tourismus.de.

Über Kommentare zu unseren Blog-Beiträgen freuen wir uns jederzeit. Schickt uns dazu gerne eine Nachricht auf unserer Mein Göttingen Facebook-Seite.

 

Gudrun

Ich bin 1984 von Ostwestfalen zum Archäologiestudium nach Göttingen eingewandert. Nach dem ersten "Kulturschock" habe ich mich gleich pudelwohl gefühlt. Göttingen hat die Infrastruktur einer Großstadt und das Lebensgefühl einer Kleinstadt. Inzwischen arbeite ich seit fast 18 Jahren als Stadtführerin und ich entdecke immer noch neue Seiten an ihr. Vom Trubel der Innenstadt erhole ich mich beim Wandern durch die umliegenden Wälder, am liebsten hinauf zur Plesse. Dort war ich nämlich Archäologin und kenne jeden Stein mit Vornamen.
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