Man nehme vier Allerwelts-Fassaden, engagiere fünf Künstler*innen und gebe ihnen die Freiheit, ihre ganz eigene Sicht auf die Dinge mit Pinsel und Sprühdose darzustellen – kritisch, politisch, menschlich oder einfach ganz ohne Botschaft. So geschehen in Göttingens Weststadt und das Ergebnis ist so beeindruckend gelungen, dass man sich dringend mehr dieser Art der Wandgestaltung wünscht. Jedes dieser Wandgemälde erzählt seine ganz eigene Geschichte. Wir haben Agatha Czarny, Dennis Mau, Patricia Saavedra, Dylan Sara und Käff getroffen, die diese wunderbaren Werke geschaffen haben.
Kunst ist eine Haltung
Stadtteil mit unglaublich coolen Leuten
“Die Idee hatte Gabi”, sagt Tine Tiedemann, Geschäftsführerin im Kulturzentrum Musa, “das Projekt ist ihr eine echte Herzensangelegenheit.” Gabi Radinger kümmert sich in der Musa um die Stadtteilarbeit und kann bei unserem Gespräch leider nicht dabei sein. “Sie will den Fokus auf die Weststadt richten, diesen lebens- und liebenswerten Stadtteil mit unglaublich coolen Leuten.”

Legen den Fokus auf die Weststadt: Patricia, Dylan, Gabi, Agatha und Dennis.
Foto: Göttingen Tourismus & Marketing / Mischke
Vermüllung der Umwelt: Agathas und Dennis’ Werk im Königsstieg 85.
Foto: Göttingen Tourismus & Marketing / Mischke
Streetart werde, so Tine, ja häufig kritisch und geringschätzig angesehen. “Kunst ist aber eine Lebenseinstellung, eine Haltung. Also holt man die Leute ab, mit dem, was man zu sagen hat.” Die Fassadensuche hatte zuvor einige Monate gedauert, aber Gabis Beharrlichkeit und Überzeugungskraft haben sich ausgezahlt. Die beteiligten Künstler*innen, bis auf “Käff”, sind in ihren Ateliers in der Kreativetage der Musa aktiv.
Keine Palmen, keine Sonnenuntergänge
Dennis und Agatha haben das vorerst letzte Mural an der Giebelwand des Hauses Königsstieg 85 gemeinsam gemalt. “Die Städtische Wohnungsbau hatte sich etwas Schönes gewünscht, mit Meerblick”, berichtet Dennis, der sich in der Szene “CoreOne” nennt. “Uns war nur klar”, sagt er, “Meer gerne, aber keine Palmen und keine Sonnenuntergänge.” Die beiden fanden recht schnell einen Konsens.
Agatha, mit Künstlernamen “Sigma”, malt sehr gerne Tiere und brachte die Humboldt-Pinguine ins Spiel. Von dort aus, war es zum Thema Meer und Umweltverschmutzung nicht mehr so weit. Die beiden brauchten ob des Bildformats eine Menge Vorstellungskraft. Einen Entwurf des geplanten Bildes brachten sie zu Papier. “Danach haben wir Photoshop-Collagen erstellt und die ein bisschen hin- und hergeschoben”, sagt Dennis.
Cool, wenn Du akzeptiert wirst
Die Menschen, die unter den Meerestieren auf der Wand zu sehen sind, scheinen, trotz der vordergründigen Gemeinsamkeit, ziemlich allein zu sein. Etwas stört den Zusammenhalt. Ist es die stete und ständige Vermüllung unserer Welt? Man weiß es nicht genau, es bleibt Raum für Interpretation. Das ist für die beiden aber auch nicht primär wichtig.
“Jeder versteht das Bild anders”, lautet ihre Erkenntnis, “und die Menschen erkennen in Abstraktem mehr, als in klassischen Grafitti-Tags.” Die Resonanz der Nachbarn: großartig. “Wildfremde Menschen haben uns am Haus besucht und wir kamen mit ihnen ins Gespräch”, berichten sie. “Die Leute haben uns bei der Arbeit sogar bewirtet. Wie cool ist es, wenn du nicht nur akzeptiert wirst, sondern die Menschen auch verstanden haben, was wir sagen wollen.”
Etwas Schönes für die Bewohner
Lustige Ameisen helfen RaMona
Patricia hat im Rahmen des “Weststadt hoch 25”-Projekts zum ersten Mal eine Fassade bemalt, an der Pfalz-Grona-Breite 12. “Ich wollte gar keine Botschaft vermitteln”, sagt sie, “sondern einfach etwas Schönes für die Bewohner machen.” Sie entschied sich für ihre Kunstfigur RaMona. Ein kleines naturverbundenes Mädchen mit Blätterhaaren und eigenem Instagram-Account, das sie seit sieben Jahren zeichnet. Bis dato nur auf DIN A4-Papier und jetzt ganz groß.

Hat Helfer: RaMona, das kleine Mädchen mit den Blätterhaaren, in der Pfalz-Grona-Breite 12.
Foto: Göttingen Tourismus und Marketing / Mischke
Etwas tollpatschig: Auch der Vogel möchte RaMona helfen.
Foto: Göttingen Tourismus und Marketing / Mischke
RaMona steht auf einer Leiter und malt quasi selbst das Wandbild. Dabei helfen ihr ein etwas tolpatschiger Vogel, der auf der Fassade blaue Tapsen hinterlässt. Viele lustige Ameisen, auch ein Lieblingsmotiv von Patricia, gehen RaMona zur Hand. Sie sammeln das Herbstlaub, das von RaMonas Kopf fällt, tauchen es in den grünen Farbeimer und befestigen das frische Grün an den vorgezeichneten Bäumen.
Viele Details zu entdecken
“Es ist also gewissermaßen ein fertiges Wandgemälde, das aber den laufenden Arbeitsprozess von RaMona zeigt”, berichtet Patricia. “Manche Menschen, denken, ich sei damit nicht fertig geworden”, sagt sie lächelnd, “das habe ich schon während meiner Arbeit häufig erklären müssen.” Fertig oder nicht, es gibt so viele Details zu entdecken, wenn man sich ein wenig Zeit nimmt.
Auch die Logos der Sponsoren des Projekts, die von den fleißigen Ameisen als kleine Banner hochgehalten werden. Die Hecke und der Standplatz der Müllbehälter am Haus wurden von Patricia sehr geschickt mit einbezogen. Das verleiht dem Bild nicht nur Tiefe, sondern, je nach Perspektive, könnte man meinen, RaMona stünde mit ihrem Pinsel auf einer der echten Biotonne.
Menschen in Naturfarben
Bewohner aus dem Kiez gezeichnet
Dylan Sara zeichnet liebend gerne Menschen, schon lange und sehr beeindruckend. Das habe ich bereits bei seinem ersten Göttinger Fassadengemälde im Ebertal gesehen.

Nachbarn auf der Wand: Dylan Sara hat die Bewohner in Naturfarben gezeichnet.
Foto: Göttingen Tourismus und Marketing / Mischke
Soziale Komponente: Viele Menschen kamen über das Bild in Kontakt.
Foto: Göttingen Tourismus und Marketing / Mischke
Damals hatte er, gemeinsam mit den Bewohnern, deren Konterfeis mit Naturfarben auf eine Giebelwand gebracht. Wohlwissend, dass dieses Haus ein paar Wochen später abgerissen wird und die Menschen, für etliche Monate, entwurzelt sein werden, bevor sie in die neu gebauten Wohnungen umziehen können. Nicht so jetzt am Rosmarinweg 22-24. Hier wird nichts abgerissen. Auch die Maltechnik ist eine andere, aber auch hier geht es darum, Bewohner aus dem Kiez auf die Hauswand zu bringen.
Interessanter Mikrokosmos
“Ich habe zusammen mit Gabi einen Brief an die Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft geschrieben, das Projekt vorgestellt und gefragt, wer dabei sein möchte”, erzählt Dylan. Willi war der Erste, der sich gemeldet hat. Er wohnt interessanterweise in der Wohnung hinter dem einzigen Fenster in der Giebelwand. “Ihn habe ich auch zuerst auf die Wand gezeichnet und von da an war es eigentlich ein Selbstläufer”, berichtet Dylan und lächelt dabei.
Immer mehr Menschen haben ihn bei der Arbeit gesehen, immer mehr Menschen aus der Nachbarschaft wollten auch gerne in Dylans Bild vertreten sein. “Das war wirklich schön”, sagt Dylan, “viele Leute aus diesem interessanten Mikrokosmos kamen erst über mein Bild in Kontakt. Manche haben sich sogar darüber erst kennengelernt.”
Grenzen überwinden
Botschaft mit Bewohnern entwickelt
“Käff”, der seinen wirklichen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte, treffe ich erst nach dem Musa-Termin vor Ort, im Rosenwinkel 47. Er ist ein wenig in Zeitverzug und möchte unbedingt sein Bild fertig machen. Seit vier Wochen malt er bereits an seinem Werk über die komplette Frontfassade eines großen Mietshauses.

Politisches Motiv im Rosenwinkel 47: Grenzen überwinden von “Käff”.
Foto: Göttingen Tourismus und Marketing / Mischke
Bilderbuchartige Szenen: Das Wandbild ist zum Treffpunkt geworden.
Foto: Göttingen Tourismus und Marketing / Mischke
Es ist kein vollflächiges Bild, sondern zeigt bilderbuchartig einzelne Szenen. Käffs Thema und Forderung ist es, Grenzen zu überwinden. So steht es blutrot auf der riesigen gelben Sonne oben links geschrieben, denn, und das steht dort auch, Grenzen töten, trennen, teilen. Er hat seine Botschaft gemeinsam mit den Bewohnern des Hauses entwickelt. “Hier laufen viele Abschiebungen”, sagt der Künstler, “ohne Rücksicht auf die Kinder. Das ist politisch falsch und unmenschlich.”
Grenzen sind menschengemacht: Käff bei der Arbeit.
Foto: Göttingen Tourismus und Marketing / Mischke
Bild zum Treffpunkt geworden
Grenzen seien stets menschengemacht, denn in der Natur würden sie gar nicht akzeptiert werden. “Pflanzen wachsen einfach durch sie hindurch, Vögel fliegen darüber, also”, folgert Käff, “können auch Menschen Grenzen überwinden.” Er selbst hat das vor wenigen Tagen hier getan.
“Ich habe gerne die alleinige Kontrolle über meine Bilder”, sagt er, “aber ich habe hier einen Vater und seine Tochter ein wenig mit malen lassen, weil das Mädchen sich das so gewünscht hat.” Überhaupt ist ihm die Weststadt ans Herz gewachsen. Er ist Teil der Nachbarschaft geworden. Der Platz vor seinem Bild ist zum Treffpunkt für alle Altersstufen avanciert, vom Kind bis zur Oma.
Nachbar auf Zeit
“Das Feedback ist großartig und positiv”, berichtet Käff, “ständig kommen Menschen und versorgen mich mit Getränken. Es sind krasse Gespräche, die ich führe und ich erfahre sehr viel von den Familien.” Er hatte diese Dynamik einfach nicht erwartet und fragt sich nun, was wohl kommt, wenn er fertig ist. “Ich bin nur Nachbar auf Zeit”, und das klingt ganz schön traurig.